Imaginäre Freunde, Kuscheltiere und Copingmechanismen

Contentwarning: Dieser Artikel umfasst die folgenden Themen: Depressionen, Mobbing

Das Thema, das ich heute ansprechen möchte, ist schon wieder eines, welches ich schon ewig vor mir her schiebe. Primär hatte ich hier tatsächlich Angst vor der Reaktion. Seit ich aber weiß, dass ich damit nicht allein stehe und die Bestätigung meiner Therapeutin habe, dass das, wovon ich hier sprechen möchte, nicht krankhaft ist, sondern im Gegenteil sehr sinnvoll, möchte ich es doch endlich ansprechen. Aber lasst mich vorne anfangen.

Ich bin in der Schule gemobbt worden. Das fing spätestens in der achten Klasse an. Damals fing ich an, mir die Haare wachsen zu lassen und schwarz zu tragen. Ich war nie allzu sportlich, hab selten in meiner Klasse(nstufe) FreundNinnen gefunden. Ich muss für die mich mobbenden Menschen das gewesen sein, was sie für ein leichtes Ziel hielten. Nur war ich es nicht ganz.

Ich entwickelte damals etwas, was ich heute gern als Mindset bezeichne. Es umfasst meine Laune und Grundstimmung und beeinflusst, wie ich auf Dinge reagiere. Damals entstand ein arrogantes Mindset. Wenn jemand mich verärgern oder verletzen wollte, trat ein Schutzmechanismus in Kraft, durch den ich in dieses arrogante Mindset wechselte und mich einfach besser fühlte als die mich mobbenden Menschen. Ich fühlte mich ihnen überlegen. Ich blickte auf sie herab. Durch diese Haltung haben es diese Menschen nie geschafft, wirklich an mich heran zu kommen. Ich nahm sie höchstens als kleines Ärgernis war, aber sie waren es nicht wert, mehr Beachtung zu erhalten. Ich bin nicht unbedingt stolz darauf, wie ich in diesem Mindset mit Menschen umgehe, von denen ich in dem Moment glaube, sie wollen mir böses, aber es hilft mir, nicht daran zu zerbrechen. Und hat mich heil durch meine Schulzeit getragen.

Ich möchte an dieser Stelle betonen: Das Mobbing hat bis zum Abitur nach dem dreizehnten Schuljahr nicht aufgehört. Fünf Jahre lang, vielleicht mehr, bin ich gemobbt wurden, obwohl ich die mich mobbenden Menschen ignoriert habe. Es wird so oft gesagt “Du wirst gemobbt? Ignoriere das einfach, dann hört es von selbst auf!” Ich kann leider aus eigener Erfahrung sagen, dass das nicht hilft. Es geht trotzdem weiter. Ich glaube zwar, dass ich deshalb weniger gemobbt wurde, aber ganz aufgehört hat es nie.

Das Mindset hat in meinem Leben eine derart wichtige Rolle gespielt, dass ich eine ganze Persönlichkeit um dieses Mindset herum erfand. Ich erfand mir eine Art imaginären Freund, dem ich dieses Mindset als Persönlichkeit zuordnete. Diese Person bekam sogar einen eigenen Namen: Gotos. Gotos war damals ein alter Nickname gewesen, den ich eine Weile online verwendet habe und der eigentlich keine Bedeutung hat, sondern nur zusammengewürfelte Buchstaben sind. Dennoch ist der Name hängen geblieben.

Gotos begleitet mich bis heute.  Es ist sogar so, dass ich mittlerweile viel bewusster mit ihm umgehe. Ich führe (Selbst-)Gespräche mit ihm und er ist mittlerweile Protagonist einer Kurzgeschichtensammlung geworden, die eine fiktive Hintergrundgeschichte zu ihm beleuchtet. Allerdings pflege ich dieses Verhältnis vor Allem deshalb so sehr, weil ich gemerkt habe, wie gut er mir bis heute tut. Er hat mir manches Mal den Hintern gerettet.

Ich erinnere mich an einen besonders schlimmen Tag in der schlimmen Zeit meiner Depression, an dem ich auf dem Boden saß und weinte. Ich hatte nicht mal mehr die Kraft mich auf mein Bett zu ziehen. Mein Notfallmedikament war in der Gemeinschaftsküche meines Flurs, im Kühlschrank, und damit für mich unerreichbar. Ich hatte nicht im Ansatz genug Löffel, um über den Flur bis in die Küche und zurück zu gehen. In dem Moment trat aber das Gotos-Mindset hervor. Plötzlich war eine Wut in mir, auf meine Depression, nicht auf mich. Plötzlich war da Energie. Ich konnte aufstehen, stapfte wütend in die Küche, griff nach dem Medikament und noch etwas Süßem, um die Wartezeit bis das Medikament wirkte zu überbrücken und stapfte wütend zurück. Erst als ich in meinem Zimmer auf dem Stuhl saß und die Tropfen des Medikaments abgezählt hatte, fiel das Mindset wieder ab und ich blieb verwirrt darüber zurück, wie zur Hölle ich das gerade geschafft hatte.

Seit spätestens dieser Erfahrung empfinde ich dieses Mindset als unglaublich hilfreich und ich bemühe mich, den Zugang zu ihm zu verbessern. Seit her ist Gotos in Form des imaginären Freundes wieder deutlich präsenter für mich.

Aber Gotos ist nicht der einzige Copingmechanismus in dieser Richtung. Wer mir auf Twitter folgt oder meine Streams schaut, kennt meine Flauschi – ein Rotpanda-Plüschtier. Flauschi ist eine Art Maskottchen meiner Streams geworden. Sie sitzt grundsätzlich so auf meinem Mikro, dass sie in jedem Stream zu sehen ist. Tatsächlich hat sie sogar einen eigenen Twitteraccount, bloggt seit Kurzem selbst ein wenig und vor Allem hilft sie mit, in meinem Stream-Chat zu moderieren. Natürlich kann ein Plüschtier das alles nicht wirklich – den Twitteraccount und Blog schreibe ich aus ihrer Sicht, im Chat arbeitet eine Bot-Software im Hintergrund unter ihrem Namen, aber meine Community hat sie schon seit langem als eigene Persönlichkeit anerkannt und zieht voll und ganz mit, wenn ich behaupte, Flauschi sei eine eigene Person und mache das alles selbst.

Tatsache ist: Auch sie ist eine imaginäre Freundin von mir. Eine, die einen sehr, sehr ausgeprägten Charakter hat, gerade auch, weil sie in meinen Streams und auf Twitter dabei ist und sie einfach auch von anderen Leuten involviert wird. Sie ist so etwas wie meine kindliche Seite. Aber auch sie ist ein Copingmechanismus. Während sie, wenn es mir gut geht, eine aufmerksame, aber auch aufgedrehte und neugierige Persönlichkeit besitzt, so ist sie, wenn es mir schlecht geht, ein Ruhepol und jemand, an den ich mich kuscheln kann – auch wenn sie ziemlich klein ist. Das ist auch der Grund, warum viele Leute glauben, ich habe sie seit meiner Geburt – sie sieht mittlerweile ziemlich durchgeflauscht aus, obwohl ich sie erst 1,5 Jahre bei mir habe.

Beide, Gotos und Flauschi, sind für mich ziemlich wichtige Selbstschutzmechanismen, aber auch deutlich mehr. Ich hab längst akzeptiert, dass sie eben auch imaginäre Freunde sind, die ich sogar ein Stück weit mit anderen Menschen, die dafür offen sind, teilen kann. Ich versuche nicht, mir “abzugewöhnen”, sie als existent zu behandeln. Mir ist bewusst, dass sie es nicht sind, aber wenn ich nicht nur Freude dran hab, sie so zu behandeln, warum sollte das ein Problem sein? Zumal sie mir ja sogar gut tun.

Ich hab lange Zeit die Sorge gehabt, wenn ich über diese beiden sprechen würde, würden Leute mir Schizophrenie oder, gerade im Falle von Gotos, eine multiple Persönlichkeit unterstellen, aber das sind sie nicht. Sie sind so etwas wie imaginäre Freunde und Copingmechanismen, aber mehr nicht. Sie sind für mich eine Stütze, keine Last. Es hat aber dennoch lange gedauert, bis ich mich getraut habe, so offen drüber zu sprechen. Ich habe erst andere Menschen kennen lernen müssen, die auch imaginäre Freunde oder ähnliche Copingmechanismen haben, bevor ich mich das getraut hab. An dieser Stelle danke an euch! Ihr wisst, wer ihr seid.

Ich hoffe, dass dieser Artikel vielleicht ein paar Menschen hilft, die ähnliche Copingmechanismen oder imaginäre Freunde haben, diese etwas besser zu akzeptieren. Es ist nichts verwerfliches oder schlimmes, im Gegenteil kann es eine Bereicherung sein!

Alina