Im ersten Teil dieser Reihe habe ich mich damit befasst, dass die Geschlechtszugehörigkeit von Menschen sich nicht auf nur zwei verschiedene Geschlechter runterbrechen lässt. Heute möchte ich stattdessen vor allem auf den biologischen Aspekt eingehen. Denn ich weiß, dass oft das Argument fällt, dass es biologisch betrachtet doch nur zwei Geschlechter gibt und die seien nun einmal verschieden. So weit dieses Denken auch verbreitet ist: Es ist nicht richtig und ich möchte mir heute die Zeit nehmen darüber zu reden, warum es das nicht ist. Ich werde am Ende dieses Beitrags weiterführende Lektüre verlinken, die sich mit dem Thema “Geschlecht ist nicht binär” beschäftigt, den Artikel selbst aber nicht zu wissenschaftlich, sondern lieber anschaulich halten.
Geschlecht wird oft auf die Gene zurückgeführt. Es heißt, wenn das letzte Chromosomenpaar XY ist, bist du männlich, wenn es XX ist, bist du weiblich. Schon hier beginnen die Schwierigkeiten. Es gibt Menschen, bei denen das letzte Chromosomenpaar tatsächlich kein Paar, sondern zum Beispiel ein Tripel wie XXY, ist. Nicht nur das: Die Merkmale, mit denen typischerweise das Geschlecht eines Kindes bei der Geburt bestimmt wird, muss nicht immer zu den Chromosomen “passen” – nicht jeder Mensch mit XY-Chromosomen bildet einen Penis aus, während es einige Menschen mit XX-Chromosomen durchaus tun. Tatsächlich ist der Übergang hier sogar fließend. Es wird im Zweifelsfall die Größe des Genitals gemessen, um das Geschlecht zu bestimmen. Es gibt hier jedoch einen Bereich von einigen Zentimetern, in dem das Kind als weder weiblich noch als männlich eingestuft wird. In aller Regel wird das Kind in diesem Fall operiert, um in die üblichen Grenzen zu passen, manchmal sogar ohne Rücksprache mit den Eltern. Das Kind bekommt demnach hier überhaupt keine Selbstbestimmungsmöglichkeit, obwohl es grundsätzlich durch das Genital nicht in seiner Entwicklung beeinträchtigt werden würde.
Neben dem genitalen und chromosomen Geschlecht können noch mindestens zwei weitere Geschlechter betrachtet werden: Das gonodale (hormonelle) Geschlecht und das gonoduktale Geschlecht. Letzteres betrachtet innere Geschlechtsorgane. Auch zwischen diesen Aspekten körperlicher Geschlechtsmerkmale gibt es fließende Übergange. Alle vier Merkmale können nach klassischer Ansicht untereinander “unpassend” sein. Es ist also zum Beispiel möglich, dass ein Mensch in drei Aspekten eine Ausprägung hat, die als männlich identifiziert wird, während die letzte Ausprägung weiblich ist. Nicht immer werden genau diese vier Aspekte so voneinander abgegrenzt. Je nach Zählweise können mehr oder weniger Aspekte unterschieden werden.
Es gibt verschiedene Studien, die sich mit der Frage befassen, wie verbreitet es ist, dass nicht alle Aspekte vom körperlichen Geschlecht zueinander “passende” Ausprägungen haben. Problematisch ist, dass es durchaus möglich ist, ein Leben lang gar nicht zu bemerken, dass eine der Ausprägungen von der Erwartung abweicht. Eine Formulierung, die in meinem Bekanntenkreis mittlerweile recht oft genutzt wird, ist, dass Intersexualität in etwa so verbreitet wie rote Haare sei. Dies entspricht etwa einem von 100 Menschen. Die genauen Zahlen variieren zwischen einem von 2000 und einem von 150 Menschen. Auf jeden Fall ist es nicht so selten, wie viele Menschen intuitiv anzunehmen scheinen. Statistisch betrachtet sind wir alle schon oft intersexuellen Menschen begegnet, meistens vermutlich ohne dies zu bemerken.
Wenn nun Intersexualität so weit verbreitet ist, stellt sich mir die Frage, warum oft behauptet wird, Geschlecht könne nur binär sein. Sicher, zumindest nach aktuellen Studien ist es wohl so, dass Menschen mit eindeutigem männlichen oder weiblichen körperlichen Geschlecht eine Mehrheit bilden, aber die Menge intersexueller Menschen ist nicht vernachlässigbar klein. Es betrifft viele Menschen. Sich also auf körperliche Aspekte zu berufen, um zu belegen, dass Geschlecht nur zwei Ausprägungen kenne, erscheint mir einfach nicht plausibel.
Geschlecht als binär zu betrachten, ist ein gesellschaftliches Konstrukt. Weder auf körperlicher Ebene noch im Miteinander ist Geschlecht starr und unabänderlich. Es gibt viele Kulturkreise, in denen die Rollenbilder von Geschlechtern sich von den westlichen Rollenbildern grundlegend unterscheiden und/oder mehr Geschlechter als zwei anerkannt werden. Thailand ist dafür ein populäres Beispiel, da dort in der Gesellschaft drei Geschlechterrollen verwurzelt sind. Diese lassen sich dabei nicht vollständig auf westliche Vorstellungen von Geschlecht übertragen. Körperlich ist das Geschlecht keineswegs nur binär, wie ich versucht habe, in diesem Artikel zu erklären. Daher empfinde ich es als äußerst schade, dass viele Menschen trotzdem so sehr an diesem binären System festhalten wollen. Ich möchte nicht, dass Menschen wegen dieses Artikels ihr eigenes Leben anders führen. Ich möchte nicht, dass Frauen, die glückliche, zu Hause bleibende Mütter sind, plötzlich Häuser bauen oder Männer, die mit ihrem Job in der IT zufrieden sind, diesen aufgeben, um als Kindergärtner zu arbeiten. Aber ich möchte, dass sich ein Verständnis verbreitet, dass diese Aufgaben nicht typisch für das eine oder andere Geschlecht sind, sondern die Präferenzen eines einzelnen Menschen sind. Ich wünsche mir, dass Menschen nicht aufgrund ihres Geschlechts unterschiedlich behandelt werden und ich wünschte mir, dass auch Geschlechter abseits von männlich und weiblich anerkannt statt abgelehnt werden.
Alina
P.S.: Für Interessierte möchte ich hier noch einige weiterführende Quellen bereitstellen:
- dritte Option
- The Intersex Roadshow (englisch)
- Stellungnahme des deutschen Ethikrates zum Thema Intersexualität
- Was ist Geschlecht?
- Wissenschaftliche Paper:
- D. MacKenzie, A. Huntington and J.A. Gilmour: The experiences of people with an intersex condition: a journey from silence to voice
- G. Warnke: Intersexuality and the Categories of Sex
- E. Nurmi: Zwischen den Geschlechtern – Intersexualität als soziales Problem: Wenn Geschlechternormen zum Zwang werden